Dossier #1: Grenzen

Mehr als bloss Linien auf der Landkarte

Die beständige Grenze im Leben von Migranten und Migrantinnen

Von Tiziano Sartor

25. Mai 2019

Grenzen hören nicht auf, wenn man sie hinter sich lässt. Sie tauchen in ihrer sozialen Dimension genau dort auf, wo sich Menschen befinden, die migriert sind.

14. Dezember 2018: Ein Beamter der Arbeitsmarktkontrolle des Kantons Bern betritt eine Baustelle in Thun und kontrolliert Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie die Arbeitsbewilligungen der Werktätigen. Zeitgleich beschliesst das kosovarische Parlament in Pristina den Aufbau einer eigenen Armee. Ein gemeinsamer Nenner dieser beiden Ereignisse wird nur auf einen zweiten oder dritten Blick sichtbar: Grenzen.

Unter den kontrollierten Arbeitern auf dieser fiktiven Baustelle in Thun befindet sich auch der fiktive Elektroinstallateur Admir Shabani. Der heute 25-jährige Kosovo-Albaner ist vor rund zwanzig Jahren mit seinen Eltern von Mitrovica in die Schweiz ausgewandert. Den Schweizerpass hat er nicht. Seit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Jahr 2008 besitzen Admir und seine Eltern neben der serbischen auch die kosovarische Staatsbürgerschaft. Die Heimat von Vater und Mutter kennt er nur aus den alljährlichen Reisen während der Sommerferien. Zwei Ereignisse im Leben von Admir sind an diesem Freitag im Dezember von Grenzen geprägt, jedoch in unterschiedlicher Weise und nicht am selben Ort. 

Die Brücke über den Ibar in Mitrovica, Nordkosovo

Die Brücke über den Ibar in Mitrovica, Nordkosovo. Als Verbindung zwischen dem serbischen und dem kosovo-albanischen Stadtteil gedacht, gilt sie heute als Symbol für die innere Spaltung des Kosovo, sozusagen als Grenze im Landesinneren. (Adam Jones, Ph.D./Wikimedia Commons)


Spricht man von Grenzen, so meint man damit meistens die Linien, welche auf Landkarten einzelne Territorien aufteilen. Grenzen bedeuten aber mehr als solche Umrisse auf dem Atlas. Neben ihrer Funktion zur räumlichen Trennung von verschiedenen politischen Gebieten haben Grenzen auch eine gesellschaftliche Dimension. Mit anderen Worten, sie wirken auf Menschen auch ausserhalb von Grenzregionen. Dies erfahren vor allem ausländische Staatsangehörige wie Admir in ihrem alltäglichen Leben. Und zwar nicht nur, wenn sie am Grenzübergang in Chiasso oder an der Passkontrolle des Flughafens in Kloten stehen, sondern überall im Landesinneren. Denn Grenzen sind keine natürlich gegebene Realität, sie sind vielmehr sozial konstruiert.

Grenzen als Grundlage für Nationalstaaten

Die Ereignisse in der Heimat von Admirs Eltern deuten auf die klassische Rolle hin, welche Grenzen im modernen Staatensystem spielen. Vor etwas mehr als zehn Jahren haben verschiedene politische und gesellschaftliche Prozesse dazu geführt, dass sich Kosovo von Serbien unabhängig erklärte. Ein neuer Staat entstand, mit einer reichen Geschichte an ethnischen und religiösen Konflikten. Die vormals innerserbische Grenze wurde in eine Staatsgrenze umgewandelt. Bis heute ist der rechtliche Status des Kosovo jedoch umstritten.

Nun strebt auch Kosovo danach, eine eigene Armee aufzubauen. Eine Armee gilt gemeinhin als wesentliche Voraussetzung für einen Staat, um seine Grenzen kontrollieren zu können. Nur so könne der Staat die nationale Eigenständigkeit, also seine Souveränität, aufrechterhalten. Diese Auffassung hängt eng mit der Idee der Nationalstaaten zusammen, die ihren Ursprung im Europa des 19. Jahrhunderts hat und bis heute vorherrscht. Um verschiedene Nationen räumlich einzuteilen, werden Grenzen gezogen.

In der heutigen öffentlichen Wahrnehmung werden nationale Grenzen als gewissermassen natürlich gesehen. Nationen jedoch sind ebenfalls sozial konstruiert, es gibt keine naturgegebene Nation. Vielmehr handelt es sich bei einer Nation um eine «vorgestellte politische Gemeinschaft». Dieser Begriff des Politikwissenschaftlers Benedict Anderson (1983) meint, dass sich eine Nation vor allem über ein vorgestelltes Gemeinschaftsgefühl definiert. Die Ursprünge dieses Gefühls können vielfältig sein, sie können zum Beispiel in einer gemeinsamen Religion oder Sprache liegen. Eine solche Gemeinschaft zeichnet sich zudem dadurch aus, dass sie beschränkt ist. Keine einzelne Nation wird jemals alle Menschen dieser Erde umfassen. Die Abgrenzung zu anderen ist grundlegend für das Selbstverständnis einer Nation.

Mit Grenzen Mobilität überwachen

So betrachtet, dient die Grenzziehung zwischen Nationen einem bestimmten Zweck, nämlich dazu, die Mobilität von Menschen zu überwachen. Grenzen fungieren als Hüter der «vorgestellten politischen Gemeinschaft». Migration ist in einem solchen System nicht frei. Migrantinnen und Migranten dürfen – je nach gesetzlichen Regelungen der Nationalstaaten – nicht immer ein- bzw. ausreisen oder bleiben, wo sie sich gerne niederlassen würden. Staatsgrenzen hin oder her – die Geschichte wie auch die Gegenwart zeigen, dass die Menschen auf der Welt stets in Bewegung sind. Aus den verschiedensten Gründen wandern sie von einem Ort zum anderen. Doch die Grenze zum Ort, an dem sie sich niederlassen, lassen sie nicht einfach hinter sich zurück: Sie nehmen diese vielmehr mit in ihr neues Leben.

Dies mussten beispielsweise auch Admirs Eltern erfahren, als sie mit ihrem Sohn in Bern eine Schweizer Aufenthaltsbewilligung beantragten. Die Bewilligung einmal erhalten, mussten sie diese nach fünf Jahren erneuern lassen. Die Grenze zwischen ihrer alten Heimat und der Schweiz trat somit alle fünf Jahre wieder in Erscheinung, ohne dass sie sich in die Nähe der Schweizer Grenze begaben. Hier zeigt sich die soziale Bedeutung von Grenzen.

«Grenze» – eine Idee in unseren Köpfen

Wie zuvor mit der Nation, so wird auch die gesellschaftliche Dimension von Grenzen deutlich, wenn man sich genauer mit dem Begriff befasst. In Wirklichkeit gibt es keine natürlichen Grenzen zwischen Nationalstaaten. Berge, Flüsse, Seen oder Meere bieten sich als praktische natürliche Trennlinien an. Ob solche geographischen Gegebenheiten aber in eine politische Grenze gewandelt werden, hängt letztlich von uns Menschen ab. So zeigt das Beispiel der Ibar-Brücke im Norden Kosovos, dass auch inoffizielle Grenzen innerhalb von Nationalstaaten möglich sind. Obwohl die Brücke zwei Stadtteile mit jeweils mehrheitlich serbischer bzw. kosovo-albanischer Bevölkerung miteinander verbinden soll, wird sie heute kaum genutzt und ist auf beiden Seiten von starker Polizeipräsenz geprägt. Sie symbolisiert eine Grenze im Inneren eines Staates. Es hängt also vor allem von uns Menschen ab, ob wir eine Abgrenzung als eine Tatsache in unser Weltverständnis aufnehmen.

Diese Konstruktion von Abgrenzungen ist kein einmaliges Ereignis. Einmal festgelegt, überleben Grenzen nur, wenn die Gesellschaft ihr Dasein akzeptiert, sie als real wahrnimmt. Dazu müssen Grenzen kontinuierlich Platz in der öffentlichen Debatte finden, mit anderen Worten, in der Politik. Diese wiederum ist wandelbar. So lässt sich erklären, weshalb Grenzen verschwinden, sich verschieben oder gänzlich neu auftauchen. Die Ausführungen zum Kosovo und seinem Streben nach einer eigenen Armee sind ein aktuelles Beispiel dafür, wie heute Diskussionen um die Festlegung neuer Grenzen geführt werden.

Welche Wirkung Grenzen schliesslich auf unser alltägliches Leben haben, ist eine Frage der politischen Debatte. Ein Blick auf das Konzept «border performativity» der US-amerikanischen Kriminologin Nancy A. Wonders (siehe Kasten unten) macht dies deutlich. Sie bezeichnet damit den Umstand, dass Grenzen oftmals ein verborgener Begleiter von Migranten und Migrantinnen sind. In bestimmten Situationen treten sie in Erscheinung und beeinflussen das Leben dieser Menschen, sie «performen».

Die Grenze als ständige Gefährtin

Wie viele andere Menschen, so sind auch Admirs Eltern migriert. Admir lebt deshalb jetzt als ausländischer Staatsbürger in der Schweiz. Seine Rechte und Pflichten sind andere, als jene von Schweizern und Schweizerinnen. Eine Grenze prägt somit stets sein Leben. Grösstenteils ist sie verborgen, ab und an tritt sie in Erscheinung. Wo und wann dies geschieht, hängt von der Situation ab, in der Admir sich befindet.

Gehen wir nochmals zurück zu diesem Freitag im Dezember 2018. Nachdem die Beamten der Arbeitsmarktkontrolle seine Kollegen befragt haben, ist Admir an der Reihe. Sie rufen ihn zu sich und erkundigen sich nach seinen Arbeitspapieren und den Arbeitsbedingungen auf der Baustelle. Als Ausländer ist Admir jedoch noch weiteren Kontrollen unterstellt, nämlich bezüglich seiner Aufenthaltserlaubnis in der Schweiz. Da seine Papiere allesamt in Ordnung sind, ziehen die Beamten wieder ab und für Admir und seine Mitarbeiter ist bald danach Feierabend. Anschliessend tauschen sie sich in der Garderobe über das Tagesgeschehen aus. Ein serbischer Kollege provoziert ihn wegen der Nachricht der kosovarischen Armeepläne. Admir erwidert gelassen, er habe keine enge Beziehung zum Kosovo, er wolle mit diesem nationalistischen Getue in Ruhe gelassen werden. Ein wenig genervt packt er seine Sachen und geht nach Hause.

Dieser kurze Abriss fiktiver Geschehnisse zeigt zweimal, wie die Grenze im Leben von Admir Shabani «performt». Zuerst tritt die Grenze in Form der Kontrolle seiner Papiere als ausländischer Staatsbürger auf. Diese «performance» ging von staatlichen Autoritäten aus, basierend auf Schweizer Recht. Später taucht die Grenze erneut in der Interaktion mit einem serbischen Kollegen auf, welcher die ferne, umstrittene Grenze zwischen Kosovo und Serbien zum Anlass nimmt, Admir auf seine Herkunft anzusprechen. Hier wird die gesellschaftliche Dimension von Grenzen ersichtlich. Grenzen sind somit mehr als bloss Linien auf Landkarten. Migranten und Migrantinnen lassen sozial konstruierte Grenzen nicht hinter sich zurück, sondern tragen diese in ihrem Leben mit sich.

Was ist «border performativity»?

Die US-amerikanische Kriminologin Nancy A. Wonders führt in ihren Analysen das Konzept «border performativity» (deutsch: Performativität von Grenzen) ein, um die soziale Dimension von Grenzen besser erfassen zu können. Sie versteht darunter einerseits den Prozess, mit dem staatliche Autoritäten Mobilität von Menschen zu kanalisieren versuchen. In unserer globalisierten Welt, so hält sie fest, versuchten Staaten ihre Grenzen so zu gestalten, dass Kapital sowie reiche Individuen problemlos passieren können. Anfälligere, marginalisierte Bevölkerungsgruppen, würden jedoch bewusst in ihrer Mobilität eingeschränkt, da sie als Belastung für die Pflichten des Staates gegenüber seinen Bürgern und Bürgerinnen betrachtet werden (z. B. Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, etc.). Diesen Umstand bezeichnet Wonders als «Halbdurchlässigkeit» von Grenzen.

Andererseits verweist «border performativity» auch auf den Effekt, den Grenzen auf die soziale Interaktion zwischen verschiedenen Individuen innerhalb einer Gesellschaft haben. Die Grenze ist eine Gegebenheit, welche Migrantinnen und Migranten mit sich bringen und in ihrem täglichen Leben mit sich tragen. Neben dem Verhältnis gegenüber dem Staat, in dem sie leben, sind auch ihre zwischenmenschlichen Beziehungen geprägt vom Fakt, dass sie eine politische Grenze überschritten haben.

Literatur

Verwendete Literatur:

  • Wonders, Nancy A.: Global Flows, Semi-Permeable Borders and New Channels of Inequality, in: Pickering, Sharon und Weber, Leanne (Hg.): Borders, mobility and technologies of control. Dordrecht 2006, S. 63 – 86.
  • Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 2005.

Weiterführende Literatur:

Zu Tiziano Sartor

Tiziano Sartor studiert im Master European Affairs an der Università di Bologna. Davor absolvierte er ein Bachelorstudium in Politikwissenschaften und Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Seine Studieninteressen liegen in den Bereichen europäische Integration, Migration und Staatsbürgerschaft.