Das Tagebuch von Charlotte Weber während des Zweiten Weltkriegs und ein Interview mit Rilana Stöckli, einer jungen Aktivistin, geben Einblicke in die Erfahrungen von Frauen in der humanitären Hilfe.
Während des Zweiten Weltkrieges gelang trotz strenger Flüchtlingspolitik
zahlreichen Menschen die Flucht in die Schweiz. Diejenigen, die in die
Schweiz gelangten, wurden in einem Lagersystem interniert. Internierung
beschreibt die Unterbringung von ausländischen Militär- und
Zivilpersonen in von der Armee geführten Lagern während eines Krieges.
Während die Schweizer Männer in der Politik und im Militär aktiv waren,
übergaben Bund und Kantone die Aufgabe der Flüchtlingsbetreuung in
diesen Lagern und Heimen oft an Frauen – humanitäre Hilfe grenzte sich
von politischen Entscheidungen ab und wurde als «Frauensache» angesehen.
Charlotte Weber war eine der Frauen, die sich innerhalb des Schweizer Lager- und Heimsystems um Geflüchtete kümmerte. Sie war ausgebildete Primarlehrerin und wurde 1942 von der zuständigen Behörde für Organisation der Flüchtlingslager und Heime angefragt, ob sie in der Nähe von Liestal ein Heim für geflüchtete Frauen leiten wolle. Die damals 30-Jährige nahm die Herausforderung an und blieb von da an bis Kriegsende als Betreuerin in mehreren Schweizer Flüchtlingsheimen tätig. Im Rahmen ihrer Arbeit als Heimleiterin erledigte sie Büroarbeiten, organisierte Freizeitaktivitäten für die Geflüchteten und sah zu, dass die Bewohnerinnen das Heimreglement befolgten.
Weber war nur für geflüchtete Zivilisten zuständig. Ausländische Militärpersonen, die sich im Kriegsgeschehen in die Schweiz gerettet hatten, wurden nach internationalen Regeln in einem separaten Lagersystem interniert. Hinsichtlich der Zivilflüchtlinge konnte die Schweiz grösstenteils allein Entscheidungen treffen und war an keine allgemeinen Abmachungen gebunden. Während der Monate und oft auch Jahre der Internierung war es den Geflüchteten gesetzlich verboten, zu arbeiten und Geld zu verdienen oder sich mit der einheimischen Bevölkerung anzufreunden. Deshalb war es den damaligen Verantwortungsträgern wichtig, die internierten Zivilflüchtlinge anderweitig zu beschäftigen. Im Heim «Bienenberg» bei Liestal organisierte Weber für die geflüchteten Frauen obligatorische Beschäftigungen wie Nähen, Stricken, Kochen und Putzen. Sie bot aber auch freiwillige Aktivitäten wie eine Theatergruppe oder begleitete Spaziergänge an.
Das Bild, dass vor allem Frauen die Geflüchteten betreuten, war nicht nur in den von Weber geleiteten Lagern anzutreffen: Politische Angelegenheiten übernahmen die Männer, während sie die humanitäre Arbeit den Frauen überliessen. Diese wurde im Zusammenhang mit der offiziellen neutralen Position der Schweiz im Krieg als unpolitisch verstanden. Da die Schweizerinnen bis zur Erlangung des Stimm- und Wahlrechts 1971 als unpolitische Bürgerinnen galten, war während der Kriegszeit die Flüchtlingshilfe ein mögliches Engagement für Frauen. Männer sahen Frauen als «mütterlich» und «sanft» an, was als geeignete Charaktereigenschaften für die Betreuung der Geflüchteten galt.
Zwischen Charlotte Weber und den meist männlichen Vorgesetzten der Zentralleitung für Lager und Heime kam es auch öfters zu Konflikten, vor allem wenn Weber sich stark für ihre Schützlinge einsetzte: Sie beantragte Versetzungsgesuche für die in anderen Regionen der Schweiz internierten Ehemänner der von ihr betreuten Frauen, sie insistierte auf den Ausbau von Ausbildungsmöglichkeiten für die geflüchteten Mädchen und stellte für die Internierten ein Freizeitprogramm mit Theatergruppe und Musikensemble auf die Beine.
Weber schreibt in ihrem veröffentlichten Tagebuch, dass sie viele schöne Erinnerungen aus dieser Zeit mitnahm. Es entstanden zahlreiche Freundschaften, die zum Teil ein Leben lang hielten. Jedoch stand Weber auch vor der schwierigen Aufgabe, dem Leiden der geflohenen Menschen irgendwie gerecht werden zu wollen. Dazu gehörte, dass sie die Unnahbarkeit und das Unaussprechliche ihrer Verfolgungs- und Fluchterfahrungen respektieren und einen Umgang mit dem beklemmenden Schweigen der Internierten finden musste. Dieses Schweigen wagte sie nie anzusprechen. Weber konnte sich zwar ein ungefähres Bild der Leben der Internierten vor deren Flucht machen, jedoch erzählten diese weder von der Flucht noch von vermissten Familienangehörigen oder dem, was sie erleben mussten. Charlotte Weber ist eine von vielen Frauen, die sich während und nach dem Zweiten Weltkrieg in der Flüchtlingsbetreuung engagierte.
Man kann wirklich nichts dafür, wo man geboren worden ist. Wenn man schon das Privileg hat, etwas machen zu können, sollte man das auch umsetzen.
Bis heute engagieren sich viele Menschen in der Flüchtlingshilfe und auch heute sind viele davon Frauen. Anders als bei Webers Anstellung 1942 im Flüchtlingsheim bei Liestal, engagiert sich die Studentin Rilana Stöckli (24) seit 2016 an unterschiedlichen Standorten in Europa in der Flüchtlingshilfe. Im Interview spricht sie über die unterschiedlichen Arten von Grenzen, mit welchen sie bei Einsätzen in der Flüchtlingshilfe konfrontiert wird. Ähnlich wie Charlotte Weber fällt es ihr schwer, mit den Geflüchteten über ihre Erlebnisse zu reden – genau wie sich auch die geflüchteten Menschen oft selbst schwer damit tun, von sich aus von Vergangenem zu erzählen. Neben emotionalen Herausforderungen stellen auch die unterschiedlichen Sprachen immer wieder eine Art Grenze in der Flüchtlingsarbeit dar: Ein Grossteil der Kommunikation läuft ohne Worte ab und basiert auf Gesten und Mimik, da Stöckli kein Arabisch und erst wenig Persisch spricht und viele der Geflüchteten kaum Deutsch, Englisch oder Französisch sprechen. Stöckli erzählt auch davon, wie es überhaupt zu ihrem Engagement kam und wie sie mit den unterschiedlichen Umständen ihres eigenen Lebens und jenem der Geflüchteten umgeht. Im Hinblick auf physische Grenzen berichtet sie davon, wie es in den von ihr besuchten Flüchtlingslagern aussieht und in welcher Form die dort untergebrachten Menschen Schutz erhalten.
Auch wenn Charlotte Weber im Zweiten Weltkrieg in der Flüchtlingshilfe als offiziell Angestellte tätig war und Rilana Stöckli sich heute im Rahmen des freiwilligen Engagements einsetzt, gibt es gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihren Erlebnissen. Bei beiden gibt, beziehungsweise gab es die Herausforderung, keinen eigenen Zugang zu der Vergangenheit der Geflüchteten zu haben und deshalb an die Grenzen zu stossen, Worte für die Tragödie zu finden. Während Weber eng an die Vorgaben ihrer Vorgesetzten gebunden war, bestehen hier für Stöckli mehr Freiheiten. Ein weiterer Unterschied ist sicherlich auch, dass Stöckli für ihr Engagement in einem Flüchtlingslager ins Ausland reiste, während Weber in der Schweiz Hilfe leistete. Beide betonen in ihrer Arbeit die Wichtigkeit, die Geflüchteten als intelligente Menschen zu verstehen und Entscheidungen nicht über ihren Kopf hinweg zu fällen.
Die Ausländer- und Flüchtlingspolitik der Schweiz in den Jahren 1939 – 1945 war stark von der Angst vor Überfremdung geprägt. Grosse Ängste bestanden vor allem mit Blick auf die Schweizer Wirtschaft und die Bevölkerungspolitik. So fürchteten viele Schweizer zum Beispiel um ihre Arbeitsplätze. Aber auch als die Deportation von Juden im Sommer 1942 im Rahmen der «Endlösung» der Nationalsozialisten massiv vorangetrieben wurde, hielt man in der Schweiz an der restriktiven Flüchtlingspolitik fest. Trotz ansteigendem Flüchtlingsstrom wurden die Menschen an der Schweizer Grenze noch immer zurückgewiesen – dies obwohl die verantwortlichen Behörden und die Politik über Hinweise auf die Massenvernichtung der Juden verfügten.
Hinsichtlich der Geflüchteten, die es trotz dieser abweisenden Flüchtlingspolitik in die Schweiz geschafft hatten, war es aus Schweizer Sicht damals sehr wichtig, dass die aufgenommenen Personen nur vorübergehend in der Schweiz bleiben konnten und eine Weiterreise in ein anderes Land für sie zwingend war. Als definitives Asylland sollte die Schweiz also nicht in Frage kommen, sie verstand sich lediglich als Station auf der Durch- und Weiterreise der Geflüchteten. Oftmals wurden Internierungslager und ‑heime an Orten abseits von Städten und Dörfern eingerichtet. Die Schweizer Behörden befürchteten, dass sich die Internierten durch die Annäherungen an die Schweizer Zivilbevölkerung in der Schweiz zu sehr einleben und nach dem Krieg nicht mehr aus- oder weiterreisen würden.
Lilian Blatter studiert Allgemeine Geschichte sowie Medienforschung und Kommunikationswissenschaft im Master an der Universität Fribourg. Sie hat in den gleichen Fächern ihren Bachelor absolviert. Besonders interessiert sie sich für sozialpolitische Themen und die Aufarbeitung des Holocaust.