Reisen birgt die Chance, sich selbst neu zu entdecken und andere Perspektiven auf die Welt zu erlangen. Sie kann aber auch physisch und psychisch an Grenzen führen. Das erlebten auch Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart. Die beiden brachen kurz vor dem Zweiten Weltkrieg nach Afghanistan auf.
Annemarie Schwarzenbach (links) und Ella Maillart 1939 in Genf (Keystone-SDA)
Genf, Mai 1939. Ein Ford Roadster Deluxe mit Bündner Kennzeichen: GR2111. Vor der glänzenden Motorhaube stehen zwei Frauen. Die eine lächelt selbstbewusst in die Kamera, die andere blickt versonnen in den Himmel. Es ist ein Bild, das Abenteuer verspricht. Und Abgründe. Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart stehen kurz vor eine Reise, die beide an ihr Limit bringen wird: physisch und psychisch. Kurze Zeit nach Aufnahme des Bildes brechen sie mit diesem Ford nach Afghanistan auf. Eine Reise, die beide verändert – und ihre Freundschaft zum Zerbrechen bringt.
Annemarie Schwarzenbach, 1908 in Zürich geboren, war eine vielseitige Persönlichkeit, die sich den Konventionen ihrer Zeit konsequent entzog: Schriftstellerin, Fotografin, Reisende. Sie lebte weltoffen und frei und verheimlichte auch ihre Beziehungen zu Frauen nicht. Als Tochter einer wohlhabenden konservativen Schweizer Familie passte sie nicht in die starren gesellschaftlichen Normen, die ihr auferlegt wurden. Ihr Grossvater Ulrich Wille war General im Ersten Weltkrieg, ihr Grossneffe James Schwarzenbach wurde in den 1960er und 1970er Jahren durch migrationsfeindliche Initiativen (darunter auch die berühmte «Überfremdungsinitative») bekannt.
Aufgewachsen auf dem Landgut Bocken am Zürichsee, lebte Annemarie Schwarzenbach im Konflikt zwischen den Erwartungen ihrer strengen Mutter und ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit. Sie suchte nach Freiheit – sei es in der Literatur, in der Kunst oder in der Ferne. Berlin wurde zu ihrem intellektuellen und emotionalen Zufluchtsort. In den 1920er Jahren verkehrte sie in den literarischen Kreisen um Erika und Klaus Mann, mit denen sie eine enge Freundschaft verband. Ihre innere Zerrissenheit widerspiegelte sich in ihrem Schreiben und ihrer Fotografie. Doch Berlin brachte nicht nur künstlerische Freiheit, sondern auch die Droge, die sie nie mehr loslassen sollte: Morphium. Die Flucht in den Drogenkonsum war ein verzweifelter Versuch, den existenziellen Ängsten zu entkommen, die sie zeitlebens plagten.
«Unser Leben gleicht der Reise…»
Für Annemarie Schwarzenbach war Reisen mehr als Abenteuer. Reisen war für sie eine Grenzerfahrung und eine intensive Form, das Leben zu erfahren und die reale, menschliche Existenz fassbarer zu machen. So löse das Reisen «ein wenig den Schleier über dem Geheimnis des Raums (Alle Wege sind offen, S. 36). Reisen lässt uns eintauchen in fremde Welten. Sie sah das Reisen aber nicht als «Befreiung vom Alltag». «In Wirklichkeit» sei es «gnadenlos» und als eine Schule fürs Leben «geeignet, uns an den unvermeidlichen Ablauf zu gewöhnen, an Begegnen und Verlieren, hart auf hart» (Alle Wege sind offen, S. 38). Afghanistan versprach ihr einen Ausweg aus den inneren und äusseren Zwängen, die sie in dieser Zeit erlebte. Weit weg vom konservativen Europa wollte sie den politischen Spaltungen und ihrer Familie entfliehen.
Ganz anders die 1903 in eine Pelzhändlerfamilie in Genf geborene Ella Maillart. Sie war eine Frau der Tat: Seglerin, Skifahrerin, Ethnographin, Schriftstellerin. Und eine der wenigen Frauen, die sich in den 1930er Jahren in – aus europäischer Perspektive – abgelegene Regionen wagte. Ella Maillart liebte die Herausforderung. Schon in ihrer Jugend begann sie zu segeln. Auf dem Genfersee, wie auch auf dem Mittelmeer. An den Olympischen Spielen 1924 nahm sie als erste Frau an einer Segelregatta teil. Aber nicht nur die sportliche Herausforderung reizte sie. Sie wollte die Welt entdecken. Der Mensch und sein Dasein, seine unterschiedlichen Lebensweisen faszinierten sie. So reiste sie 1930 zum ersten Mal in die Sowjetunion, schrieb Bücher und Reportagen über ihre Reisen, die sie bis in die entlegensten Winkel Zentralasiens führten. Weitere Reisen, unter anderem nach Turkestan, China, Indien, Usbekistan und Kirgistan folgten. Gerade die für sie aussergewöhnlichen Orten faszinierten sie. Die nomadische Lebensweise schien ihr fremd und seltsam. Sie wollte sie unbedingt entdecken, selbst sehen, spüren und ethnographische Forschung betreiben. Afghanistan war für sie kein Ort der Flucht, sondern ein riesiges Forschungsfeld. Sie wollte unbedingt nach Nuristan, eine sehr abgelegene Region in Afghanistan, reisen, um dort die Lebensweise der Nomaden zu dokumentieren.
Was brachte diese ungleichen Frauen zusammen? Ausschlaggebend für ihr gemeinsames Unterfangen war er: Der Ford Roadster Deluxe, den Annemarie Schwarzenbach von ihrem Vater bekommen hatte. Über den Archäologen Henri Seyrig, den Ehemann von Ella Maillarts bester Schulfreundin und Segelpartnerin Hermine Seyrig-de Saussure und ein guter Freund von Annemarie Schwarzenbach, erfuhr Ella Maillart von Annemarie Schwarzenbach und ihrem Wagen. Ella Maillart war zu diesem Zeitpunkt schon einige Male mit Lastautos in Asien unterwegs gewesen. So reiste sie zum Beispiel im Jahr 1937 mit Lastwagen und Autobus von Karachi (Indien) über Afghanistan, Iran und die Türkei nach Europa. Schon lange aber hegte Ella Maillart einen grossen Traum: Sie wünschte sich, einmal mit einem eigenen Wagen die Hasarejdschatstrasse in Afghanistan hinauffahren zu können. Als sie von Annemarie Schwarzenbach und ihrem Ford erfuhr, war sie darum sofort hellauf begeistert:
«Einen Ford! Das ist der Wagen, mit dem man die neue Hasarejdschatstrasse in Afghanistan hinauffahren sollte!»
Die Reise mit dem eigenen Ford versprach die absolute Freiheit und Flexibilität, die Ella Maillart sich für ihre Untersuchungen wünschte. Im März 1939 kam es in Sils, wo Annemarie Schwarzenbach gerade weilte, zum ersten Treffen. Gemeinsame Reisepläne wurden sofort geschmiedet.
Der Ford wurde zum verbindenden Element zwischen der robusten und pragmatischen Maillart und der psychisch instabilen, nachdenklichen Schwarzenbach. Während Schwarzenbach oft in ihrer Gedankenwelt versank, war Maillart tief in der realen Welt verankert.
Die Vorbereitung der Reise gestaltete sich schwierig. Der Ford, ursprünglich nicht für derart strapaziöse Expeditionen ausgelegt, musste vor der Abfahrt mehrfach in die Werkstatt. Dennoch war er unverzichtbar für das Unterfangen. Der Wagen war ein identitätsstiftendes Symbol für das gemeinsame Abenteuer und ermöglichte Flexibilität und Selbstkontrolle. Das zeigt sich auch an den zahlreichen Fotografien, die den Ford als treuen Begleiter dokumentieren, nicht zuletzt jenes Bild, das am Anfang dieses Artikels steht.
Die Reise nach Afghanistan war für beide mehr als nur ein Abenteuer. Für Ella Maillart war sie der logische nächste Schritt ihrer Forschungen. Aus diesem Grund schmiedete sie auch Pläne für Afghanistan: Sie wollte das Land entdecken. Schreiben. Gleichzeitig war da aber auch noch ein grosses, dunkles Ereignis, dass sich in Europa abzeichnete: der Zweite Weltkrieg. Ella Maillart wollte weg. Eine Reise nach Afghanistan, einem Raum, der in dieser Zeit nicht häufig und sicher nicht von allein reisenden Frauen bereist wurde, schien darum wie gerufen zu kommen.
Für Annemarie Schwarzenbach war die Reise ein Versuch, aus dem Kreislauf von Drogen und Selbstzweifeln auszubrechen. Afghanistan war also mehr als nur ein Ziel: Die Reise war eine Notwendigkeit, wenn nicht sogar ein letzter Rettungsanker.
Am 6. Juni 1939 brachen Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart in Genf auf. Das Ziel: Kabul.
«Leb wohl, du sauberes Land, leb wohl, du gewaltiges Rhonetal mit den zitternden Pappeln, wo jeder hinunterstürzende Gebirgsbach, an dem wir vorüberkommen, an Orte voller Schönheit erinnert»
Doch die Gegensätze zwischen den beiden Frauen wurden schon bald spürbar. Schwarzenbach, geplagt von Selbstzweifeln, erlitt schon in Osteuropa den ersten Rückfall in den Drogenkonsum. Weitere folgten. Ella Maillart, pragmatisch und diszipliniert, trieb die Reise voran. Fortan versuchte Annemarie Schwarzenbach, ihren Drogenkonsum zu verstecken. Doch dies gelang nicht. Annemarie Schwarzenbach brachte Ella Maillart immer wieder an ihr Limit:
«Christina [Anm.: gemeint ist Annemarie Schwarzenbach] lag auf dem Boden, zusammengerollt, blutlos, sie glich eher einem krepierenden Hund denn einem menschlichen Wesen…»
Die Reise führt die beiden aber trotzdem weiter. So befuhren sie die Nordroute von Herat nach Kabul mit dem Auto. Die Reise verlief ohne grössere Probleme. Nur einmal verbrühte sich Ella Maillart unterwegs die Hand und wegen einer Choleraepidemie im östlichen Iran dauerte der Aufenthalt in Teheran länger als ursprünglich geplant.
Zwischenstopp in Osteuropa: Hier kommt es zu den ersten Rückfällen Schwarzenbachs. (Schwarzenbach, Annemarie: Bulgarien: Auto, Bulgarien 1939/1940, Fotografie, EDI, Nachlass Annemarie Schwarzenbach, Signatur: A-5-19/003. Online: <https://ead.nb.admin.ch/html/schwarzenbach.html>, Stand 20.12.24.)
«In Bulgarien schickte man uns über einen Saumpfad durch ein Gebirgstal von phantastischer Schönheit, der Ford war geduldig wie ein Maultier» (Annemarie Schwarzenbach, Alle Wege sind offen, S. 15)
Schwarzenbach und Maillart beim Beladen ihres Autos in Osteuropa. Die Welt scheint in Ordnung zu sein. Doch der Schein trügt. (Unbekannt: Iran, Teheran (Tehran), Iran 1939/1940, Fotografie, EDI, Nachlass Annemarie Schwarzenbach, Signatur: A-5-19/004. Online: <https://ead.nb.admin.ch/html/schwarzenbach.html>, Stand 20.12.24.)
Der Ford auf einer Strasse im Iran: die kahle Landschaft und die gleissende Sonne zeigen die Gegensätzlichkeit zu Europa. (2. Schwarzenbach, Annemarie: Iran, Meshed (Mashhad), Iran 1939/1940, Fotografie, EDI, Nachlass Annemarie Schwarzenbach, Signatur: A-5-19/140. Online: <https://ead.nb.admin.ch/html/schwarzenbach.html>, Stand 20.12.24.)
«Bereits vor Mittag herrschte die Hitze über unserer Welt. Jede Einzelheit der Landschaft zitterte, als sei sie am Kochen. Jeder Windstoss, der von der backofengleichen Wüste kam, war so sengend, dass wir das windseitige Fenster hochschraubten und bedauerten, keinen Vorhang zu haben, der die Sonne daran hinderte, mich zu verbrennen,» (Ella Maillart, Zitiert nach unsterbliches Blau, S. 58)
Menschen in Afghanistan: Neben ihren persönlichen Erfahrungen war es den beiden Reisejournalistinnen ebenfalls wichtig, ethnographische Beobachtungen festzuhalten (2. Schwarzenbach, Annemarie: Afghanistan, vor Chahrshambe (Khvajeh Chahar Shanbeh): Menschen, Afghanistan 1939/1940, Fotografie, EDI, Nachlass Annemarie Schwarzenbach, Signatur A-5-20/013. Online: <https://ead.nb.admin.ch/html/schwarzenbach.html>, Stand 20.12.24.)
Menschen in Afghanistan: Neben ihren persönlichen Erfahrungen war es den beiden Reisejournalistinnen ebenfalls wichtig, ethnographische Beobachtungen festzuhalten
«Toll vor Freude rasten wir rumpelnd durch die Wüste – man hielt uns nicht länger davon ab, in ein schönes, kaum bekanntes Land, genannt das Land der Afghanen, zu fahren. (…) Plötzlich fuhren wir langsamer: zwei Männer – weisse Turbane, blitzende Zähne, weisse Hemden unter engen Westen, Hosen mit Ziehharmonika-Falten – richteten ihre Gewehre auf uns. Ihr Anblick, ihre Haltung waren eine so typische Einführung in Afghanistan, dass ich laut lachend herausplatze: «Habe ich es nicht gesagt? Sind sie nicht grossartig?» (Ella Maillart, zitiert nach unsterbliches Blau S. 62).
In Kabul kam es dann zum endgültigen Bruch. Ein weiterer Rückfall Annemarie Schwarzenbachs brachte Ella Maillart an ihre Grenzen. Der Plan, nach Nuristan weiterzureisen, wurde aufgegeben. Sie entschied sich, allein nach Britisch-Indien weiterzureisen, wo sie den Krieg in Europa abwarten wollte. Schwarzenbach blieb in Kabul zurück, bevor sie schliesslich in die Schweiz zurückkehrte.
«Es war entsetzlich zu begreifen, dass für sie unsere Relation zu Ende, der ‹Pakt› von mir ausgebrochen, das Vertrauen zerstört, ihre Rolle und Aufgabe mir gegenüber zu Ende ist.»
schrieb Annemarie Schwarzenbach später. Trotz eines intensiven Briefwechsels kam es nie zu einer erneuten Begegnung. 1942 starb Schwarzenbach mit nur 34 Jahren nach einem Fahrradunfall in Sils. Ella Maillart lebte noch ein halbes Jahrhundert. Das Abenteuer mit Annemarie Schwarzenbach blieb ein Kapitel, dass sie nie ganz losliess. Zwei Frauen, zwei Leben – verbunden durch eine Reise, die alles von ihnen abverlangte.
Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart hinterliessen ein eindrückliches Erbe ihrer faszinierenden Reise: unzählige Fotografien, literarische Werke, und filmographische Aufnahmen. Sie erzählen von einer Fahrt, die weit mehr war als eine physische Expedition, die die ethnographischen Entdeckungen festhält. Für Annemarie Schwarzenbach war die Reise ein verzweifelter Versuch der Rettung – vor den Drogen, vor ihren Ängsten, vielleicht sogar vor sich selbst. Für Ella Maillart war die Expedition ein weiterer Meilenstein in ihrem Forscherinnenleben.
Unter ‘Ethnographie’ versteht man eine Methode der Sozialwissenschaften, die das Ziel hat, die Lebensweise, Werte und sozialen Strukturen von Gemeinschaften zu erfassen und zu verstehen. Sie basiert auf teilnehmender Beobachtung und direktem Kontakt mit den Menschen, um deren Perspektive und kulturellen Kontext nachzuvollziehen. Bei Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart spiegelt sich ein ethnographischer Ansatz in ihren Reisen und Schilderungen wider. Beide dokumentierten in ihren Werken nicht nur ihre Erlebnisse, sondern auch die Kultur und Lebensrealität der Menschen, denen sie begegneten. Ihre Beobachtungen gehen über reine Beschreibung hinaus und zeigen den Versuch, kulturelle Eigenheiten einzuordnen und den gesellschaftlichen Wandel zu reflektieren.
Maillart, Ella: Der bittere Weg. Mit Annemarie Schwarzenbach unterwegs in Afghanistan, Basel 20214.
Maillart, Ella: Flüchtige Idylle. Zwei Frauen unterwegs nach Afghanistan, Zürich 1988.
Schwarzenbach, Annemarie: Alle Wege sind offen. Die Reise nach Afghanistan 1939/1940, Basel 2021.
Castrejón, María; Martín, Susanna: Annemarie. Basel 2022.
Fornerod, Françoise: Maillart, Ella, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Online: <;, Stand: 19.12.2024.
Georgiadou, Areti: «Das Leben zerfetzt sich mir in tausend Stücke». Annemarie Schwarzenbach. Eine Biographie, Frankfurt/Main 1995.
Pellin, Elio: Schwarzenbach, Annemarie, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS) Online: <;, Stand: 16.12.2024.
Perret, Roger (Hg.): Unsterbliches Blau. Reisen nach Afghanistan, Annemarie Schwarzenbach, Ella Maillart, Nicolas Bouvier, Zürich 2003.
Peter-Kubli, Susanne: Schwarzenbach, James, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Online: <;, Stand: 20.12.2024.
Schwarzenbach Alexis: Auf der Schwelle des Fremden. Das Leben der Annemarie Schwarzenbach, München 2008.
Alina Maurer studiert im Bachelor Geschichte und Germanistik an der Universität Freiburg (CH). Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Geschichte des Holocausts sowie der Public History.