Dossier #3: Ekstase

Sexueller Höhenflug

Beate Uhse hebt mit der «Schrift X» ab

Von Milena Kessler

4. Mai 2022

Beate Uhse war eine Influencerin der Nachkriegszeit. Ihr erstes Produkt war eine Schrift über Verhütung. Und das in einer Zeit, in der vieles, was mit Sex zu tun hatte, als unzüchtig galt.

Der erste Sexshop der Welt, ein riesiges Erotikunternehmen und Pornos – dafür steht der Name Beate Uhse. Er steht aber auch für eine Frau, die den Leuten grundlegende Informationen über Verhütung verfügbar machte. Und das mit viel Gespür fürs Geschäft.

Aufklärung der besonderen Art

Eine Kuh und ein Bulle zeugen zusammen ein Kalb. Wie Fortpflanzung funktioniert, erklärte die Mutter. Die Praxis gabs im Kuhstall des Vaters zu sehen. So lief Aufklärung auf dem ostpreussischen Bauernhof, wo Beate 1919 geboren wurde. Ihre Mutter kannte sich mit der Theorie aus. Sie setzte sich mit viel Ehrgeiz gegen die damals übliche Rollenverteilung von Mann und Frau durch und wurde eine der ersten Ärztinnen Deutschlands. Auch der Vater motivierte Beate, ihre Ziele entgegen den gesellschaftlichen Erwartungen zu verfolgen. Und so erfüllte sie sich ihren Traum und wurde Pilotin. Eine Entscheidung, die ihr weiteres Leben prägen sollte.

Der Fliegerei verdankte sie ihren Namen: Sie heiratete ihren Fluglehrer Hans-Jürgen Uhse, der später im Zweiten Weltkrieg verstarb. Beate war damals Fliegerin der Luftwaffe. Kämpfen durfte sie als Frau nicht, aber sie flog die Maschinen an die Front. Ein Flugzeug war auch ihre Rettung, als die sowjetische Armee 1945 in Berlin einmarschierte. Sie packte Kind und Kindermädchen in einen Flieger und floh in die westliche Zone.

Eine Senkrechtstarter-Idee

Nach fast sechs Jahren Krieg herrschte Chaos in Deutschland. Die Städte waren genauso zerstört wie die Hoffnung, die viele in die nationalsozialistische Ideologie gesteckt hatten. Das Nötigste zum Überleben mussten sich zahlreiche Menschen auf dem Schwarzmarkt besorgen. Dort hatte Beate Kontakt mit vielen Frauen, die versuchten, sich und ihre Familien in dieser schwierigen Zeit über Wasser zu halten. In Gesprächen erfuhr sie auch von deren Sorgen und Problemen. Sex war ein Bedürfnis, aber unter diesen unsicheren Bedingungen ein Kind zu bekommen – das dann auch noch gefüttert werden musste! – glich einem Albtraum. Da kam Beate die zündende Geschäftsidee: Sie schrieb eine Anleitung für die natürliche Verhütungsmethode nach Knaus-Ogino. «Das ist zwar nicht sicher, aber besser als gar nichts», wie sie später dazu sagte. Die Befriedigung des Sexualtriebes sollte von der Fortpflanzung getrennt werden. Das war in ihren Augen eine soziale Pflicht. Sex also auch für den Genuss, nicht nur zur Zeugung. In ihrer «Schrift X» ging sie auf den weiblichen Zyklus ein. Sie erklärte, wie die Frau anhand der Kalendermethode die Familienplanung selbst in die Hand nehmen konnte. Diese Anleitung verkaufte sie für zwei Reichsmark. So konnte sie vielen Frauen helfen und gleichzeitig Geld für sich und ihre Familie verdienen.

Quellenreproduktion zeigt die erste Seite der «Schrift X» von Beate Uhse.

Befriedigung von der Zeugung trennen – das bietet Beate mit ihrem ersten Produkt, der «Schrift X», an. Der Jungfernflug der jungen Unternehmerin war erfolgreich. Über 32'000 Exemplare verkaufte sie im ersten Jahr. (Archiv der FZH, Bestand Beate Uhse, Signatur 18-9.2.3.Bd.44.)

Mit Bestellscheinen betrieb Beate per Post Marketing für ihre «Schrift X» und verkaufte so gleich im ersten Jahr 32000 Exemplare. Ihr zweiter Ehemann, Ernst-Walter Rotermund, half ihr beim Aufbau des Geschäfts. Beate baute ihr Sortiment weiter aus. Sie verkaufte Kondome in verschiedenen Formen, Dildos und Aufklärungsbücher. 1951 gründete sie ein Versandhaus. In den Produktkatalogen waren oft ein Foto von Beate und eine persönliche Ansprache abgedruckt. Sie warb mit ihrem Gesicht für die Produkte – genau das, was Influencer*innen heute tun. Eine weibliche Stimme in Sexualfragen war eine Neuheit und sprach die Kundinnen an. Darin lag auch der Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Als Mutter und verheiratete Frau aus gutem Hause wirkten ihre Produkte weniger anrüchig. Aber Achtung: Sexuelle Ekstase sollte auch bei Beate nur in der Ehe stattfinden. Masturbation, Homosexualität oder Sex vor der Ehe waren kein Thema. Aber selbst mit diesem zurückhaltenden Programm galt sie in dieser Zeit für viele als zu obszön.

Tiefflug der 1950er Jahre

Prüde, prüder, 1950er Jahre! So wie einige Jahre zuvor der ausländische Feind, war es nun der Sittenverfall der Gesellschaft, den viele Westdeutsche zur grössten Bedrohung erklärten. Im Kampf gegen «Schmutz und Schund» wehrten sich konservative Kreise gegen alles, was als obszön, geschmacklos, schädlich und jugendgefährdend galt. Der Fokus lag besonders auf dem «Schutz» der Jugend. Rund 1.6 Millionen Kinder und Jugendliche wurden infolge des Kriegs zu Halb- oder Vollwaisen. Diese zu erziehen, ihnen Anstand und Benehmen beizubringen, schien im Chaos der Nachkriegsjahre schwierig. Weder der Nationalsozialismus noch der Zweite Weltkrieg waren in den Augen der Sittenwächter – unter ihnen viele ehemalige Nazis – für die Missstände verantwortlich. Die Schuld gaben sie den Amerikaner*innen und ihren Filmen, Büchern, Kunst und Musik. Den liberalen Einfluss des «Amerikanismus» lehnten sie strikt ab. Comics wurden als «Kinderopium» und «Volksseuche» verteufelt. Die Jugendlichen würden durch den negativen Einfluss willenlos ihren Trieben unterworfen. Dazu zählte auch Sex. Und diese ungehemmte Suche nach erotischen Erlebnissen hätte den moralischen Verfall der Gesellschaft zur Folge. Jedoch machte die gesellschaftliche Kontrolle auch vor dem Schlafzimmer der Erwachsenen keinen Halt: Sexuelles Verhalten, welches nicht der «Normalität» entsprach, galt als unzüchtig und wurde verurteilt.

Aber was war «normaler Sex»? Wenn es nach Kirche und Staat ging, sollte Geschlechtsverkehr nur in der Ehe stattfinden. Insbesondere in den ersten Nachkriegsjahren sah die Realität aber ganz anders aus. Die ungeordneten Verhältnisse weckten in der Gesellschaft Neugier und Lust aufs Leben. Der lange Krieg war endlich vorbei und viele Menschen sehnten sich nach sexuellen Abenteuern. Sex als Moment des Genusses und der Ekstase. Sex als Beweis, dass man den schlimmen Krieg überlebt hatte. Sexualität nicht nur zwischen Ehemann und Ehefrau. Dies fand auch der Forscher Alfred Kinsey in seiner Studie zum Sexualverhalten der Menschen heraus. Die – für die damalige Zeit überraschenden – Ergebnisse: Homosexualität und Masturbation waren weit verbreitet.

Sollte das also heissen, dass sich die Leute anders verhielten, als es die gesellschaftlichen Regeln vorschrieben? Die Verkaufszahlen von Beate Uhse sprachen zumindest dafür. Ihre Produkte waren extrem gefragt. Dass der Lebensstil vieler Menschen von den geltenden Moralvorstellungen abwich, passte den Behörden nicht. Sie verfolgten alles, was ihnen nicht angebracht schien. Wer den Verdacht erweckte, ausserehelichen Geschlechtsverkehr oder Masturbation zu fördern, geriet schnell mit dem Gesetz in Konflikt.

So landete auch Beate mit ihrem Erotikunternehmen «Beate Uhse» mehrfach vor Gericht. In über 2000 Fällen ermittelte die Polizei gegen sie. Ihre Produkte förderten Unzucht und der Werbestrategie von Beate mangle es an der nötigen Diskretion für dieses vom Gericht als heikel eingestufte Thema. Die Prospekte seien «sitte- und anstandsverletzend» und könnten «normal empfindenden Menschen» nicht ungebeten zugemutet werden. Aber Beate dachte nicht daran, einen Abflug vom gewinnbringenden Markt zu machen. Im Gegenteil. Sie überlegte sich immer neue Methoden, um die Urteile zu umgehen und ihre Produkte weiterhin an die Leute zu bringen. Anstatt die Produktkataloge unbestellt an alle Haushalte zu schicken, versandte sie bald nur noch Gutscheine. Interessierte Kunden und Kundinnen konnten dann den Katalog anfordern. Und auch vor Gericht kämpfte sie weiter, bis sie Fall für Fall freigesprochen wurde. Dass die Gesellschaft sich allmählich veränderte, kam auch Beate Uhse zugute. Die sexuelle Revolution der 1968er-Bewegung förderte Toleranz und Offenheit für Sex. Und Beates Geschäft boomte.

Foto bildet Beate Uhse vor einem Flugzeug ab.

Eine Überfliegerin im wahrsten Sinne: Beate hob nicht nur mit dem Flugzeug ab, sondern auch mit ihrem Erotikgeschäft. (Hans-Jürgen Uhse via Wikimedia Commons)

Sexuelle Befreiung nur als Kopilotin?

Nicht alles, was Influencer*innen darstellen, entspricht der Realität. Storys werden passend für eine Situation entworfen und verbreitet. So war es auch bei Beate Uhse: Manchmal war sie Beate, die abenteuerliche Pilotin. Und manchmal Beate, die engagierte Ehefrau. Sie inszenierte sich ihrer Kundschaft gegenüber als Pionierin, die sich für Emanzipation und sexuelle Lust einsetzte. Vor Gericht präsentierte sie sich hingegen als bürgerliche Familienfrau. Sie pickte sich für jede Situation die passendste Geschichte heraus, um sich in einem guten Licht zu präsentieren. Ihre Biografie konnte sie durch PR geschickt in Ansehen für ihre Firma umwandeln. Verschiedene Anekdoten verbreiteten sich immer weiter, ein Mythos entstand. 

Beate war aber nicht die einzige oder erste Person, die mit Sexprodukten in der Nachkriegszeit ihr Geld verdiente. Sie orientierte sich am Markt und an den Wünschen der Kundinnen und Kunden. Idealismus war vor allem auch dann gefragt, wenn er sich gut verkaufte. Ihre berühmte Aussage «Hier steht heute der Orgasmus vor Gericht!» entsprach durchaus ihrer persönlichen Überzeugung. Sie richtete sich gegen das konservative Denken ihrer Zeit. Sie richtete sich aber auch an eine Gesellschaft, die sich zunehmend von sexuellen Einschränkungen loslöste und somit potenzielle Kundschaft für Beate bereithielt. So war auch ihre Überlegung, persönlich für ihre Produkte zu werben und dabei ihre Lebensgeschichte und ihre Familie miteinzubeziehen – wie es auch viele Influencer*innen heute tun – eine erfolgreiche Marketingstrategie der Anfangsjahre. Frauen als Kundinnen und deren Bedürfnisse standen anfangs im Mittelpunkt ihres Geschäfts. Das änderte sich spätestens mit der Porno-Welle der 1970er Jahre: Von da an spielten Frauen in Beates Unternehmen nur als Lustobjekte für männliche Konsumenten eine Rolle. War Emanzipation nur ein Zwischenstopp auf dem Weg zum grossen Geschäft gewesen?

Die eigentliche Beate-Uhse-Story ist die einer tüchtigen Geschäftsfrau, die sich und ihre Geschichte geschickt zu inszenieren wusste. Sie kämpfte zwar gegen veraltete Moralvorstellungen in der Gesellschaft. Vor Gericht ging es aber primär um ihre Firma. Sie ermöglichte vielen Leuten, ein erfülltes Sexleben zu führen und ebnete der sexuellen Revolution der 1968er-Generation den Weg. Motiviert war sie aber vor allem vom Geschäft. Beates Einsatz für Emanzipation war eher zweitranging. Im Vordergrund stand ihr ausgeprägter Geschäftssinn. Die Beobachtungen im Kuhstall ihres Vaters, die Theorien der Mutter und die Notlage vieler Frauen in der Nachkriegszeit mögen sie zu ihrem ersten Produkt – der «Schrift X» – inspiriert haben. Reich machten Beate aber die Erotikartikel und ‑filme. Und so wurde sie letztlich weniger als sexuelle Befreiungsikone bekannt, als für die Eröffnung des ersten Sexshops der Welt, ein riesiges Erotikunternehmen und Pornos.

Der Kinsey-Report

Ursprünglich beschäftigte sich der Zoologe Alfred Kinsey mit Insekten. Aber erst mit seiner Forschung zum Thema Sex erreichte er ein grösseres Publikum. Er und sein Team führten insgesamt 18000 Interviews in den USA durch. Sie befragten Personen verschiedener Altersgruppen zu ihren persönlichen sexuellen Erfahrungen. 1948 publizierte Kinsey seinen Report über das Sexualverhalten von Männern. 1953 folgte die Ausgabe zu den Frauen. 

Die Ergebnisse sorgten international für Aufsehen. Sie zeigten, dass Homosexualität und Masturbation in der Bevölkerung weiterverbreitet waren. Herr Müller hatte also in der Jugend sexuelle Erfahrungen mit anderen Männern gemacht und Frau Müller masturbierte von Zeit zu Zeit. In der damaligen Zeit skandalöse Vorstellungen! Kinsey sah Sexualität als Form des menschlichen Verhaltens und zeigte auf, wie unterschiedlich diese praktiziert wurde. Seine Feststellungen stimmten aber nicht mit den Gesetzen, Normen und Moralvorstellungen überein, die Ende der 1940er Jahre galten. Dementsprechend stiessen sie auch auf unterschiedliche Reaktionen. Konservative Kreise lehnten seine Forschungsergebnisse ab, Aktivist*innen und Liberale hingegen bejubelten sie. Mit seinen Untersuchungen trug er wesentlich zur Veränderung der Sexualforschung und dem gesellschaftlichen Umgang mit Sex bei. Der Kinsey-Report lieferte eine erste wissenschaftliche Basis, um damalige Tabus zum Thema Sex zu brechen.

Literatur

Bullough, Vern L.: Alfred Kinsey and the Kinsey Report. Historical Overview and Lasting Contributions, in: The Journal of Sex Research 35 (2), 1998, S. 127 – 131.

Heineman, Elizabeth: Before Porn Was Legal. The Erotica Empire of Beate Uhse, Chicago 2011.

Herzog, Dagmar: The Reception of the Kinsey Reports in Europe, in: Sexuality & Culture 10 (1), 2006, S. 39 – 48.

Jähner, Harald: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955, Berlin 2019.

Rönicke, Katrin: Beate Uhse. Ein Leben gegen Tabus, Salzburg 2019

Scheidegger, Christina: Beate Uhse. Die erste Erotik-Influencerin Deutschlands, Zeitblende, Schweizer Radio und Fernsehen SRF, 23.10.2021, <https://​www​.srf​.ch/​a​u​d​i​o​/​zeitb…>, Stand: 01.12.2021.

Zu Milena Kessler

Milena Kessler studiert im Master Zeitgeschichte und Germanistik an der Universität Freiburg und absolviert dazu das Lehrdiplom für Maturitätsschulen. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Geschichte des Holocausts sowie der Geschichts- und Geopolitik im 20. und 21. Jahrhundert.