Dossier #3: Ekstase

Die offene Drogenszene in Bern

Wenn Verelendung zum Störfaktor wird

Von Yasmine Galli

4. Mai 2022

Prostitution, Schlägereien und Diebstähle bestimmten die Drogenszene im Berner Kocherpark. Schnell machten sich Elend, Not und Hilflosigkeit breit: Abhängige, umgeben von gebrauchten Spritzen, Abfall und Dreck. Und die Stadt Bern? Sie reagierte mit repressiven Mitteln, bevor sie den Weg der Prävention einschlug.

Mit der 1968er-Bewegung erhielten Drogen ein neues Gesicht: Viele Menschen verherrlichten ihren Konsum – als Genussmittel, aber auch als Zeichen der Auflehnung und des Protests. Besonders unter Gruppen von Jugendlichen, die sich gegen Vorschriften aufbegehrten, sorgte der gemeinsame Drogenkonsum für ein Zugehörigkeitsgefühl. Zu Beginn beschränkte sich dieser Konsum auf Haschisch und Marihuana. Insbesondere der zirkulierende Joint war ein Statement gegen die Lebensweise der älteren Generation, gegen Regeln und Autoritäten. Er stand für Frieden und mehr Freiheit. Der Lebensstil der Hippies erreichte die Schweiz ab 1966. Nebst Marihuana wurde in der Schweiz bald auch LSD, Kokain und Heroin konsumiert – wobei der Konsum in der Öffentlichkeit vorerst nicht sichtbar war, da sich die Zahl der Konsumierenden in Grenzen hielt. 1972 erschienen in der Schweizer Presse erste Schlagzeilen über «Drogentote» aufgrund von Überdosierungen. In der Öffentlichkeit blieb exzessiver Drogenkonsum von Menschen, die sich Tag für Tag «zudröhnten», nicht lange unsichtbar. In mehreren Schweizer Städten bildeten sich offene Drogenszenen. Der Zürcher «Needle Park» auf dem Platzspitz erregte weltweites Aufsehen. Er wurde zum Sinnbild der Verelendung von Menschen, die dem Heroin zum Opfer gefallen waren. Doch auch in Bern formierte sich eine ähnliche, unkontrollierte Drogenszene, die ihren Höhepunkt während der Niederlassung im Kocherpark erreichte. Die Zustände im Park verschlechterten sich rasant; für einige Menschen, die sich mit Prostitution, Drogenhandel und Diebstählen durchschlugen, wurde er zum dauerhaften Zuhause. Die Not der Abhängigen spielte sich in der Öffentlichkeit ab und war nicht mehr zu übersehen. Für die Stadt Bern war klar, dass sie reagieren musste. 

Mit Zwischenstopps zum Kocherpark

Eine erste grössere Drogenszene bildete sich in Bern anfangs der 1980er Jahre. Zuvor hatten sich ab den 1970er Jahren schon kleinere Ansammlungen gebildet, bei denen konsumiert und gedealt wurde. Die Polizei versuchte mehrfach, diese aufzulösen. Ihr Eingreifen blieb aber wirkungslos. Nachdem die Münsterplattform 1985 geschlossen wurde, verschob sich die Drogenszene mehrmals: von der Münstergasse, Marktgasse und Herrengasse auf die Kleine Schanze, auf die Bundesterrasse und im Frühling 1991 schliesslich in den Kocherpark. 

Ab diesem Zeitpunkt wuchs die Drogenszene in Bern stark an. Die Szene strahlte eine besondere Anziehungskraft aus, da sie wegen ihrer Grösse und Unüberschaubarkeit die Möglichkeit bot, Drogen zu dealen und zu konsumieren und gleichzeitig anonym zu bleiben. Die offene Drogenszene in Bern zählte nebst dem Platzspitz in Zürich in den 1990er Jahren zu den grössten Europas. Zeitweise verkehrten täglich 500 bis 600 Menschen im Kocherpark. In einem provisorisch installierten «Spritzenkiosk» wurden bis zu 7000 Spritzen pro Tag bezogen. Mit dem Konsum nahm auch die Gewalt zu, weil die Drogenabhängigen jeden Tag neu darum kämpften, genügend «Stoff» zu bekommen. Die Verelendung aus der Sucht heraus zeigte sich besonders bei den sogenannten «Filterlileuten». Wie der Name andeutet, beschafften sich diese ihren Stoff aus den Filterrückständen anderer Konsument*innen. Damit gingen sie permanent auch die Gefahr ein, sich mit Krankheiten – insbesondere AIDS – anzustecken. Dass die Behörden die immer grösser werdende Drogenszene im Kocherpark fürs Erste tolerierten, sollte sich schon bald darauf ändern. 

Keine Duldung der offenen Drogenszene mehr!

Die Verhältnisse im Kocherpark verschlimmerten sich: Tausende blutige Spritzen auf dem Boden, Exkremente im ganzen Park und täglich mussten bewusstlose Menschen reanimiert werden. Mit der zunehmenden Verwahrlosung pochten immer mehr Leute in der Öffentlichkeit auf die Schliessung des Kocherparks.

Der Gemeinderat konnte die Situation nicht länger tolerieren und reagierte: Ende März 1992 schloss die Stadt den Park und liess die Drogenszene räumen. Der Gemeinderat kommunizierte, dass er «in Zukunft keine offenen Drogenszenen mehr dulden» würde. Mit Flugblättern informierte er die Öffentlichkeit darüber, dass er öffentliches Fixen nicht weiter akzeptierte. Auch den öffentlich sichtbaren Drogenhandel würde die Stadt nicht länger billigen. Gleichzeitig machten die Flugblätter aber auch auf Hilfsangebote aufmerksam. Mit der Bereitstellung sauberer Nadeln sollten Suchtkranke wenigstens teilweise geschützt und die Ausbreitung von Krankheiten wie AIDS verhindert werden.

Die Bildquelle zeigt ein Flugblatt, das die Öffentlichkeit über die Schliessung des Kocherparks informierte.

Die Öffentlichkeit wird mit Flugblättern darüber informiert, dass der Kocherpark am 31. März 1992 geschlossen wird und die Stadt Bern fortan keine offenen Drogenszenen mehr tolerieren wird. (Schweizerisches Sozialarchiv, F 5107-Na-18-157-006 / Gertrud Vogler.)

Aus dem Auge, aus dem Sinn?

Nach der Schliessung des Kocherparks befand sich die Drogenszene in Bewegung und versammelte sich an verschiedenen Orten wie dem Loeb-Egge, dem Hirschengraben oder der Kleinen Schanze wieder. Die Polizei löste solche Versammlungen stets schnell auf. Betroffene konnten so die Treffpunkte jeweils nur vorübergehend nutzen. Ein erneutes Niederlassen und Aufleben der Drogenszene, wie es in Zürich nach der Platzspitzschliessung am 5. Februar 1992 zu beobachten war, wollte die Stadt Bern mit Hilfe eines grossen Polizeiaufgebots unbedingt vermeiden. Sie bot die Einsatzgruppe «Krokus» auf, um polizeiliche Präsenz zu markieren und Betroffene vor dem Drogenkonsum in der Öffentlichkeit abzuschrecken. Es handelte sich dabei um eine eigens für diesen Zweck geschaffene Anti-Drogeneinheit der Polizei.

Die Stadt Bern hatte zudem bereits als Vorbereitung auf die Schliessung des Kocherparks verschiedene Hilfsangebote geschaffen. Für die Abhängigen sollte ein Auffangnetz gespannt werden. Die Berner Drogenszene verlor durch die verschiedenen ergriffenen Massnahmen ihre Attraktivität, sodass die Drogenabhängigen mehr und mehr aus dem Stadtbild verschwanden. Es hielten sich zwar noch immer Abhängige in der Stadt auf, der Drogenhandel und ‑konsum verschoben sich jedoch in Nischen und private Wohnungen und verschwanden somit aus dem öffentlichen Sichtfeld. Das Problem der Abhängigkeit war damit aber noch nicht gelöst. Menschen, welche mit der Sucht kämpften, waren weiterhin auf Hilfe angewiesen. 

Schadensminderungspolitik ‒ Akzeptanz anstatt Urteilen

In der Drogenpolitik Berns spielte insbesondere die private Stiftung Contact-Bern eine wichtige Rolle. In der Münstergasse eröffnete sie im Jahr 1986 die erste Kontakt- und Anlaufstelle. Drogenabhängige Menschen hatten damit zum ersten Mal einen Ort, an dem sie Akzeptanz erfuhren und medizinische sowie soziale Betreuung erhielten. Den Abhängigen wurde später auch ein Raum zur Verfügung gestellt, in welchem der Konsum von Drogen toleriert wurde. Daher kommt die noch heute gebräuchliche Bezeichnung «Fixerstübli». Als weltweit erste Institution dieser Art legte sie den Grundstein für die spätere Schadensminderungspolitik, die nicht nur die Schweiz beeinflusste, sondern auch international Wirkung zeigte.

Im Jahr 1987 stellte sich auch der Berner Gemeinderat hinter das Konzept des «Fixerstüblis». Die Berner Drogenpolitik kam somit weg von der Forderung, dass betroffene Menschen abstinent werden sollten. In den Vordergrund rückte stattdessen die Devise, den Schaden aus dem Drogenkonsum zu mindern. Im Jahr 1991 erarbeiteten Strategiepapier beschrieb die Stadt Bern ihre Drogenpolitik nun mit den vier Säulen Prävention, Überlebenshilfe, Repression und Therapie. Ein Konzept, das die Schweizer Politik im selben Jahr auf nationaler Ebene in angepasster Form übernahm. Auch zahlreiche andere Länder führten später eine ähnliche Politik ein. 

So schloss die Stadt Bern den Kocherpark nicht einfach mit dem Motto «aus dem Auge, aus dem Sinn». Die Stadt Bern strebte mit der Verdrängung der Abhängigen eine Entlastung des öffentlichen Raums an. Gleichzeitig nahm sie aber mögliche negative Folgen des Drogenkonsums für die Betroffenen ernst und machte diese zu einem wichtigen Thema in der Politik. Das Ziel war, nachhaltige Lösungen zu finden. 

Und heute?

Spaziert man heute durch den Kocherpark, erinnert nichts mehr an die damalige Situation in den 1990er Jahren. Allgemein ist die Drogenszene im öffentlichen Raum kaum mehr sichtbar – zumindest auf den ersten Blick nicht. Einer der Gründe dafür könnte sein, dass das Suchthilfeangebot seit den 1990er Jahren stetig ausgebaut wurde. Im Vordergrund steht dabei immer noch, den Schaden aus dem Konsum so gering wie möglich zu halten. Unterstützungsangebote sind heute aber individueller und werden auf die betroffenen Personen angepasst. In der Zwischenzeit haben sich auch die Konsummuster verändert. So werden heute vermehrt leistungssteigernde Drogen, wie etwa Kokain oder Ecstasy, konsumiert. Zudem verwenden immer mehr Leute Medikamente als Rauschmittel. Die Gesellschaft steht vor neuen Suchtthematiken, wie beispielsweise dem exzessiven Alkohol- und Mischkonsum bei Jugendlichen. Und die Schadensminderung steht somit vor der Herausforderung, sich stets an Veränderungen anzupassen.

Eine kurze Geschichte des Kampfes gegen Drogen in der Schweiz

Zählt man alkoholische Getränke zu Drogen, so beginnt die Geschichte des Widerstands gegen sie bereits im 19. Jahrhundert. Doch wie hängt die einsetzende Industrialisierung mit dem vermehrten Konsum von Branntwein zu dieser Zeit zusammen? Zahlreiche Menschen zogen vom Land in die Stadt, um in den Fabriken zu arbeiten. Traditionelle Beschäftigungssektoren, wie etwa die Handspinnerei, gingen zu Grunde, da Maschinen fortan diese Arbeiten übernahmen. Die voranschreitende Industrialisierung riss viele Menschen aus ihrem gewohnten Umfeld heraus und schuf die Grundlage für den Massenkonsum von starkem Alkohol. Hochprozentiges erwies sich als Möglichkeit, einer brutalen Realität zu entkommen.

Die harte Antwort des Bundes auf diesen «Elendsalkoholismus» lautete Abstinenz. Ab 1880 unterstützte er die Antialkoholbewegung. Schon bald nahm die Gesellschaft aber nicht nur das Trinken von Alkohol, sondern auch den Konsum anderer Drogen und dessen Auswirkungen zunehmend negativ war. So erliess der Bund im Jahr 1924 schliesslich das erste schweizerische Betäubungsmittelgesetz. Es beinhaltete eine Bewilligungspflicht für die Produktion und den Vertrieb von Opiaten und Kokain. Bürgerinnen und Bürger sollten so weit wie möglich von Drogen, die als Gefahr galten, ferngehalten werden. So verschärfte die Schweizer Politik in den nachfolgenden Jahren wiederholt das Gesetz: 1951 untersagte der Bund Cannabisprodukte, bevor er 1968 den Verbotskatalog mit Halluzinogenen erweiterte. Mit dem Aufkommen von harten Drogen, wie Kokain und Heroin, und den ersten «Drogentoten» 1972 verstärkten die Behörden den auf Prohibition und Abstinenz ausgerichteten Kurs noch weiter. Das Betäubungsmittelgesetz wurde 1975 revidiert: Auch Drogenbesitz und ‑konsum sollten neuerdings bestraft werden können. Repression galt lange Zeit als die beste Lösung, um die weitere Ausbreitung des Drogenkonsums zu verhindern. Erst nach einer langen Zeit unterdrückender Massnahmen vollzog sich im Jahr 1991 ein entscheidender Wandel. Mit einer neu eingeschlagenen Richtung in der Drogenpolitik begann man, vermehrt auch auf die Wirkung von Therapien und anderen präventiven Mitteln zu setzten. Der «Drogenproblematik» sollte für die Zukunft auch mit vorbeugenden Massnahmen begegnet werden.

Literatur

Aegerter, Daniel; Bürge, Ines: «Achtung, d’Bulle chöme!», in: SuchtMagazin 41 (5), 2015, S. 33 – 35

Brassel-Moser, Ruedi: Drogen, Historisches Lexikon der Schweiz HLS, 26.05.2015, <https://​hls​-dhs​-dss​.ch/​d​e​/arti…>, Stand: 11.02.2022.

Huber, Jakob: Schadensminderung am Beispiel von 25 Jahren Fixerraum Contact Netz in Bern. Oder von der akzeptanz- zur entwicklungsorientierten Schadensminderung mit einem Blick in die Zukunft, in: Abhängigkeiten 1718 (3÷1), 2011/2012, 98 – 115. Online: <https://​www​.addictionsuisse​.ch…>, Stand: 11.02.2022.

Grob, Peter J.: Zürcher «Needle-Park». Ein Stück Drogengeschichte und ‑politik, 19682008, Zürich 2009.

Tanner, Jakob: Die «Alkoholfrage» in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert, in: Fagrenkrug, Hermann W. (Hg.): Zur Sozialgeschichte des Alkohols in der Neuzeit Europas, Lausanne 1986 (Drogalkohol 386), S. 147 – 168.

Wietlisbach, Julia: Die Geschichte des Berner Fixerstübli. Entwicklungstendenzen von Ende der 1970er Jahre bis 1994, Masterarbeit, Universität Bern, Bern 2013

Zobel, Frank: Swiss drug policy, in: Colson, Renaud; Bergeron, Henri (Hg.): European Drug Policies. The Ways of Reform, Oxon 2017, S. 206 – 2016.

Zu Yasmine Galli

Yasmine Galli studiert Sozialarbeit/​Sozialpolitik und Zeitgeschichte im Bachelor an der Universität Fribourg. Sie interessiert sich besonders für Neueste Schweizer Geschichte, Sozialgeschichte und Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts.