Dossier #4: Trash

Baden verboten!

Das radioaktive Vermächtnis des Kalten Krieges im Karatschai-See

Von Sina Thöny

12. Juni 2023

Seine Geschichte ist geprägt von Geheimnissen und vertuschten Katastrophen. Heute warnt der Karatschai-See als stummer Zeuge vor den Gefahren von radioaktiven Abfällen.

Wie hängt ein See im russischen Hinterland mit dem globalen Rüstungswettlauf des Kalten Krieges zusammen? Und was hat er mit der Lagerung von Atommüll zu tun? Wer sich heute in Medien zur Kernenergie informieren will, stösst immer wieder auf Diskussionen über die Entsorgung radioaktiver Abfälle. Dabei handelt es sich meist um Brennstäbe aus radioaktivem Uran, die in den Atomkraftwerken regelmässig ausgetauscht werden müssen. Diese Brennstäbe, aber auch anderer radioaktiver Müll strahlen noch über Jahrhunderte und können bei falscher Lagerung das Grundwasser und ihre Umgebung verseuchen. Wohin also mit diesen gefährlichen Stoffen für eine so lange Zeit? Heute landen sie nach einer gründlichen Reinigung in gut befestigten und geschützten Orten, den sogenannten Endlagern. Zu Beginn der Produktion von Atomkraft Mitte des 20. Jahrhunderts sah dies noch ganz anders aus: Welche fatalen Konsequenzen die unachtsame Entsorgung von Atommüll nach sich ziehen kann, zeigt der Karatschai-See — der wohl radioaktivste See der Erde.

Tief im russischen Hinterland, fernab von Moskau und den grossen Städten des Landes befindet sich der Schauplatz dieser Geschichte. In der Region Tscheljabinsk an der südlichen Grenze Russlands zum Nachbarland Kasachstan, am Fusse des Uralgebirges liegt der Karatschai-See. Die leicht hügelige Landschaft blieb jahrhundertelang von der Bevölkerung der umliegenden Städte unberührt. Doch diese Abgeschiedenheit weckte das Interesse eines Unternehmens, das das Atomgeschäft witterte und die Idylle der Region für immer zerstören wollte.

1947: Der radioaktive Leuchtturm

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hoffte die ganze Welt, dass Ruhe und Frieden einkehren würden. Die Schrecken des Abwurfs der ersten Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 sassen noch tief. Nur wenige ahnten damals, dass die Angst vor Atomwaffen sie über die kommenden Jahrzehnte begleiten würde. Das Rennen zwischen den USA und der Sowjetunion um die neuesten Innovationen der Atombombe, ein Wettrüsten und gegenseitige Drohungen prägten die Zeit des Kalten Krieges. Zwischen 1947 und 1989 erhitzte sich der Konflikt mehrmals gefährlich, konnte aber glücklicherweise wieder beruhigt und damit der Ausbruch eines Atomkriegs verhindert werden.

Karte mit dem Gebiet der Kerntechnischen Anlage Majak.

Gebiet der Kerntechnischen Anlage Majak, Satellitenfoto/Karte. (NASA, Jan Rieke via Wikimedia Commons.)

Doch wie passt der Karatschai-See in diesen globalen Konflikt? Nur wenige Meter vom Seeufer entfernt störte 1947 eine riesige Betonanlage die friedliche Landschaft: Die Atomanlage Majak, Russisch für Leuchtturm, sollte hier heimlich waffenfähiges Plutonium für die Sowjetunion produzieren. Für die Entsorgung des dabei entstehenden Atommülls wurden kurzerhand die nahegelegenen Gewässer genutzt: Zunächst wurden die Abfälle direkt in den angrenzenden Fluss Techa geleitet. Als dieser jedoch bald auffällig hohe Radioaktivitätswerte aufwies, wurde der Karatschai-See als neue Lagerstätte genutzt. 

«Der Abfall wurde nicht sehr tief vergraben. Nuklearwissenschaftler hatten oft vor den Gefahren dieser primitiven Methode der Entsorgung gewarnt, aber niemand nahm ihre Ansichten ernst.»
Schores Medwedew, 1976, übersetzt aus dem Englischen.

Nicht nur die Natur litt unter der starken Verschmutzung des Gewässers. Über den Fluss Techa gelangte das verstrahlte Wasser zu den umliegenden Dörfern und dort auch in das Trinkwasser. Über zehn Jahre lang stand die Majak-Anlage in Betrieb, wobei die Verantwortlichen Strahlenerkrankungen in der Bevölkerung und eine nachhaltige Verstrahlung der Natur ohne Skrupel in Kauf nahmen.

1957: Die (un-)vorhersehbaren Konsequenzen

Warnschild am Techa Fluss.

Warnschild am Techa Fluss. (Ecodefense, Heinrich Boell Stiftung Russia, Alla Slapovskaya, Alisa Nikulina via Wikimedia Commons)

Verseucht und umgeben von der geschäftigen Anlage lag der Karatschai-See auch am Tag des 29. Septembers 1957 da. Doch plötzlich ertönte eine Explosion und in den Himmel geschleudertes, radioaktives Material färbte den Horizont. Denn unbemerkt von den Aufsichtspersonen war die Kühlung eines unterirdischen Atommülllagers ausgefallen und die angestaute Hitze hatte das gelagerte Material zur Explosion gebracht. Die Folge war– neben Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 – einer der verheerendsten Atomunfälle der Geschichte.

«Plötzlich gab es eine enorme Explosion, wie ein heftiger Vulkan.»
Schores Medwedew, 1976, übersetzt aus dem Englischen.

Über den See hinweg breitete sich das radioaktive Material bis zu den bewohnten Gebieten hin aus und zwang die sowjetische Regierung zum Handeln: Dörfer wurden evakuiert, Getreide vergraben, Vieh geschlachtet und Menschen notdürftig medizinisch versorgt. Aus Angst, den Amerikanern die geheime Majak-Anlage zu verraten, schwiegen die sowjetischen Behörden über den Vorfall. So wurde bald nach dem Unfall der Normalbetrieb in der Anlage wiederaufgenommen.

1967: Trockenheit

Zehn Jahre später war der Karatschai-See nicht wiederzuerkennen: Wo einst ein tiefer See gelegen hatte, zeigte sich im Jahr 1967 eine dürre Fläche. Aufgrund eines regenarmen Sommers und Winters war der See komplett ausgetrocknet und das in den letzten 15 Jahren entsorgte radioaktive Material befand sich plötzlich ungeschützt an der Oberfläche. Dort wurde es von starken Winden ergriffen und die umliegende Gegend mit ihren 41000 Bewohnern wurde mit radioaktivem Staub bedeckt. Dieser setzte die Menschen gefährlicher Strahlung aus: Organschäden, Krebs oder schwere Erkrankungen bei Neugeborenen prägten mehrere Generationen. Auch die Natur litt unter der Verseuchung: Böden verloren an Nährstoffen, Tiere und Pflanzen wurden über die Luft oder das Trinkwasser vergiftet.

1991: Das gelüftete Geheimnis

Ab Mitte 1980er Jahre neigte sich der Kalte Krieg durch die Politik des sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow und die schrittweise Annäherung an den Westen einem Ende. Nicht nur gegen aussen, sondern auch ihrem Inneren öffnete sich die Sowjetunion und machte zahlreiche der geheimen Regierungsprojekte öffentlich.

Auch für den Karatschai-See hatte sich einiges verändert: Dort, wo sich einst ein ruhiger See erstreckt hatte, lag nun ein weites, leeres Feld. Denn nach der Katastrophe von 1967 hatten die Betreibenden der Majak-Atomanlage beschlossen, den See mit Betonpfeilern aufzufüllen und schliesslich komplett abzudecken. Das verstrahlte Material sollte unter einer dicken Betonschicht sicher verschlossen werden.

Anders als der Atommüll lag das gut gehütete Geheimnis der Majak-Anlage Ende der 1980er Jahre offen. Doch wer enthüllte, was jahrzehntelang verborgen gewesen war? Knapp 20 Jahre nach der ersten Explosion brach der aus der Sowjetunion geflohene Wissenschaftler Schores Medwedew das Schweigen. Er begab sich auf Spurensuche nach vertuschten Atomunfällen in der Sowjetunion und konnte ein radioaktiv verseuchtes Gebiet um die Majak-Anlage nachweisen. Doch wie reagierte die westliche Welt auf diese Enthüllungen? Mit Kritik an der Sowjetunion? Mit Entrüstung? Ganz im Gegenteil! Der Westen kritisierte Schores Medwedew scharf und warf ihm vor, Panik zu verbreiten. Denn auch der Westen hatte Gefallen an der Atomkraft gefunden: Zahlreiche Atomanlagen waren in Betrieb, die ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt produzierten. So wurde auch im amerikanischen Hanford radioaktives Material in den naheliegenden Fluss gelassen.

«1976 stand in allen westlichen Ländern die Weiterentwicklung der Kernenergie an. Und da kommt plötzlich dieser Medwedew mit Atommüll und Explosionen, und Kontaminierung. Sie haben das wohl für eine KGB-Aktion gehalten. (…) Der in Grossbritannien für die Atomprogramme Verantwortliche erklärte, dieser Medwedew rede völligen Unsinn und so etwas geschehe nie.»
Schores Medwedew im Interview mit ARTE, 2009.

Verdächtiges Schweigen kam vor allem auch von der amerikanischen Regierung. Denn wie verschiedene CIA-Berichte und Satellitenaufnahmen später bestätigten, wusste das Weisse Haus bereits über die geheime Anlage und auch über den Unfall von 1957 Bescheid. Aber um ihre eigenen Anlagen vor Kritik zu schützen, liess die US- Regierung die Beweise für die Katastrophe in ihren Archiven verschwinden.

«In Wirklichkeit wusste die CIA über den Vorfall Bescheid, aber sie hielten das unter Verschluss. (…) Die Menschen sollten keine Angst vor der Kernkraft bekommen.»
Schores Medwedew im Interview mit ARTE, 2009.

Erst mit der offiziellen Bestätigung des Unfalls von 1957 sowie der Existenz der Majak-Anlage durch die sowjetische Regierung unter Michail Gorbatschow 1989 wurde das Geheimnis um den Karatschai-See endgültig aufgedeckt. Erstmals konnte auch eine Gruppe amerikanischer Journalisten das Gelände der Majak-Anlage betreten und über den Karatschai-Sees berichten: Noch immer waren Arbeiter mit der Zuschüttung der riesigen Fläche des Sees beschäftigt. Trotz bleiverkleideter Lastwagen blieben ihnen jeweils nur drei Minuten, um die Steine abzuladen, ohne eine Strahlenkrankheit zu riskieren. 

Heute: versteinertes Mahnmal

Noch heute ist die Majak-Anlage in Betrieb und noch heute werden leicht radioaktive Abfälle in die umliegenden Gewässer entlassen. Die riesige zubetonierte Fläche neben der Anlage erinnert an den ehemaligen Karatschai-See und mahnt diejenigen, die sich der Strahlung auszusetzen wagen, an die Gefahren der falschen Lagerung von Atommüll. Denn auch heute werden 6 sv/​h – eine tödliche Menge Radioaktivität – gemessen und es besteht die Gefahr, dass sie über das Grundwasser bis in den Arktischen Ozean gelangt. Auf dieser radioaktiv verseuchten Betonfläche wird das Baden auch in 1000 Jahren unmöglich sein.

«(…) ein Beweis für die desaströsen, langanhaltenden Auswirkungen, die Menschen auf ihre Umwelt haben können, wenn sie scheitern, angemessene Massnahmen zu treffen, um sie zu schützen.»
Bericht zum Atomunfall der Majak-Anlage im Jahr 1957, 1982, S. 28, übersetzt aus dem Englischen.

Auch im Westen litt die Natur: Die Atomanlage Hanford

Auch in Amerika wurde ohne Rücksicht auf die Umwelt waffenfähiges Plutonium produziert. Ein bekanntes Beispiel ist die Atomanlage Hanford im Nordwesten der USA: Im Rahmen des Manhattan Projekts war hier das Plutonium für die Atombomben hergestellt worden, die im August 1945 über Japan abgeworfen wurden. Neben zahlreichen Verstössen gegen eine sachgerechte Lagerung von radioaktivem Material und anderen Sicherheitsverstössen verwendeten die Betreibenden der Anlage den anliegenden Columbia River zur Kühlung der Reaktoren. Dabei wurde das Wasser kontaminiert und anschliessend in den Fluss zurückgeleitet. Diese Verseuchung wirkte sich auf die umliegende Landwirtschaft und Fischerei aus. Durch den Konsum der geernteten Produkte entlang des Columbia Rivers waren auch die Menschen der Strahlung ausgesetzt. Vor allem betroffen war eine indigene Bevölkerungsgruppe, die den Columbia River traditionell zum Fischen nutzte. 

Offengelegt wurde das achtlose Vorgehen erst 1986 nach der Schliessung der Anlage, was bei der amerikanischen Bevölkerung grosses Misstrauen gegen die Kernkraftprojekte der US-Regierung auslöste. Es wurden anschliessend zahlreiche Untersuchungen zur Kontamination des Gebiets und deren Auswirkungen auf die Menschen durchgeführt, wobei Hanford zum Schauplatz der grössten radioaktiven Säuberungsaktion Amerikas wurde.

Quellen

Guéret, Eric: Albtraum Atommüll, ARTE, Frankreich 2009. Online: <https://​www​.youtube​.com/​watch?…;, Stand: 10.12.2022.

Medwedew, Schores: Two Decades of Dissidence, in: New Scientist 72, 1976, S. 264 – 267

Soran, Diane M.; Stillman, Danny B.: An Analysis of the Alleged Kyshtym Disaster, Los Alamos 1982. Online: <https://​inis​.iaea​.org/​c​o​l​l​e​c​t​i​o​n​/​N​C​L​C​o​l​l​e​c​t​i​o​n​S​t​o​r​e​/​_​P​u​b​l​i​c​/​14​/​724​/​14724059​.​p​d​f?r=1>, Stand: 10.12.2022.

Literatur

Cochran, Thomas B.; Norris, Robert Standish; Suokko, Kristen L.: Radioactive Contamination at Chelyabinsk-65, Russia, in: Annual Review of Energy and Environment 18 (1), 1993, S. 507 – 528

Dietz, Michelle C.; Braun, Markus; Groneberg, David A.; Bendels, Michael: Folge der sowjetischen Plutoniumproduktion in der Anlage von Majak, in: Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie 5, 2017, S. 270 – 274

Gephart, Roy E.: A Short History of Waste Management at the Hanford Site, in: Physics and Chemistry of the Earth 35, 2010, S. 298 – 306.

Hanford Health Information Network, An Overview of Hanford and Radiation Health Effects, 2004. Online: <https://​web​.archive​.org/​w​eb/20;, Stand: 26.03.2023.

Kiarszys, Grzegorz: A Nuclear Generator of Clouds. Accidents and Radioactive Contamination Identified on Declassified Satellite Photographs in the Majak Chemical Combine, Southern Urals, in: Cambridge Archaeological Journal 32 (3), 2022, S. 409 – 429.



Zu Sina Thöny

Sina Thöny studiert im Master Geschichte mit den Schwerpunkten Neueste Geschichte und Mittelalter an der Universität Bern. Zudem beschäftigt sie sich im Rahmen der Digital Humanities mit der Anwendung von digitalen Methoden in den Geschichtswissenschaften. Ihre Forschungsinteressen liegen dabei in der Sozial- und Globalgeschichte mit besonderem Fokus auf die globale Vernetzungsgeschichte.